Lehrstuhl für Paläontologie & Geobiologie
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Entschlüsselt – Warum der lange Hals der Giraffe einzigartig ist

In Kooperation mit Forschenden der Humboldt-Universität zu Berlin ist es LMU-Paläobiologin Christine Böhmer gelungen, erstmals eine 100 Jahre alte Hypothese zur Evolution des langen Halses der Giraffe zu bestätigen.

27.01.2021

Die Giraffe ist mit ihrem außergewöhnlichen Körperbau eine Ikone der Evolutionsforschung, mit der sich schon der Naturforscher Charles Darwin beschäftigte. Insbesondere der lange Hals sorgte bis heute für Kopfzerbrechen. Obwohl kein anderes, heute lebendes Säugetier die extreme Halslänge der Giraffe erreicht, unterscheiden sie sich nicht in der Anzahl der Wirbel im Hals. Fast alle Säugetiere – von der Maus bis hin zu uns Menschen – haben sieben Halswirbel, so auch die Giraffe. Im Gegensatz zur Anzahl der Knochen scheint es jedoch bedeutende Unterschiede in der Knochenform zu geben, insbesondere am Übergang von der Hals- zur Brustwirbelsäule.

Giraffe

Giraffes (Picture: pixabay.com)

Eine um 1908 veröffentlichte, klassisch anatomische Arbeit beschreibt die auffallende Form des ersten Brustwirbels der Giraffe und schlägt vor, dass dieser Knochen dadurch zu einer Verlängerung des Halses beiträgt. Erst mit den heute zur Verfügung stehenden Technologien ist es möglich geworden, diese Hypothese zu testen. Das wissenschaftliche Team unter der gemeinsamen Leitung von Dr. Christine Böhmer vom Lehrstuhl für Paläontologie & Geobiologie und GeoBio-Center der LMU und ihrem Kollegen Prof. John Nyakatura von der Humboldt-Universität (HU) zu Berlin berichtet im Fachblatt Evolution von den Ergebnissen der breit angelegten Studie.

In einem ersten essentiellen Schritt wurden hunderte Wirbel von Giraffen sowie anderen verwandten Paarhufern wie Schafen, Antilopen, Kamelen und Lamas gescannt und dreidimensionale (3D) Computermodelle der Knochen erstellt. Das umfangreiche Skelettmaterial stammt aus vielen naturwissenschaftlichen Sammlungen Europas, und die gesammelten Daten sind nun durch die Autoren als digitale Knochen-Bibliothek frei zugänglich (Open Access).

Die Vergleichsanalyse der Knochenform mittels moderner statistischer Methoden ergab, dass der erste Brustwirbel der Giraffe tatsächlich unter der Vielzahl an untersuchten Tierarten heraussticht. Obwohl der Knochen Rippen trägt und somit Teil der Brustwirbelsäule ist, ähnelt er bei der Giraffe in seiner Form einem Halswirbel. Dies warf die Frage auf, ob sich die besondere Knochenform auf die Funktion der Wirbelsäule auswirkt. Mit Hilfe von leistungsstarker Animationssoftware, wie sie auch in der Filmindustrie eingesetzt wird, wurde die Bewegung zwischen den Wirbeln bei den knapp 40 verschiedenen Tierarten simuliert. Die Messungen zeigen deutlich, dass die Giraffe im Vergleich die größte Beweglichkeit am Übergang von der Hals- zur Brustwirbelsäule hat. Die aktuelle Studie liefert zum ersten Mal eine messbare Bestätigung, dass bei der Giraffe der erste Brustwirbel zu einer funktionalen Verlängerung des Halses beiträgt.

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Beweglichkeit zwischen den Wirbeln bei Giraffe und Hirsch. Abbildung: Böhmer (LMU), Merten (HU), Müller (HU), Nyakatura (HU).

Zusätzlich zur Einzigartigkeit der Giraffe hat das Forschungsteam erstmalig parallele Entwicklungen in der Wirbelsäule von langhalsigen Tieren sowie bisher unbekannte Besonderheiten bei kurzhalsigen Tieren gefunden. Zukünftig soll der Datensatz um weitere fossile Knochen von ausgestorbenen Verwandten erweitert werden. Die heutige Biodiversität ist nur eine Momentaufnahme der biologischen Vielfalt, die sich seit dem Ursprung des Lebens auf der Erde entwickelt hat. Da die verlorene Diversität ausschließlich in Form von Fossilien überliefert ist, ist es von entscheidender Bedeutung rezente und ausgestorbene Wirbeltiere zu untersuchen, um ein vollständiges Bild der Evolution zu erhalten. 

Pressemitteilung der HU Berlin

Publikation

Müller M A, Merten L, Böhmer C and Nyakatura J A (2021). Pushing the boundary? Testing the “functional elongation hypothesis” in the giraffe’s neck. Evolution. doi: 10.1111/evo.14171 (Open Access)

3D Modelle der untersuchten Knochen

Müller M A, Merten L, Böhmer C and Nyakatura J A (2021).3D models related to the publication: Pushing the boundary? Testing the “functional elongation hypothesis” in the giraffe’s neck. MorphoMuseuM 6: e129. doi: 10.18563/journal.m3.129 (Open Access)

Video

Animation der Wirbel (giraffe and okapi)

Kontakte

Dr. Christine Böhmer

Ludwig-Maximilians-Universität München
Department für Geo- und Umweltwissenschaften und GeoBio-Center

E-mail: ch.boehmer@lmu.de

Prof. Dr. John Nyakatura

Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Biologie,
Lehrstuhl für Vergleichende Zoologie

E-Mail: john.nyakatura@hu-berlin.de